Hitchcock und Welles. Zwei Pioniere und Gegensätze

Alfred Hitchcock und Orson Welles haben nicht nur Hollywoods Filmindustrie nachhaltig beeinflusst, sie gelten als die innovativsten und genialsten Regisseure ihrer Zeit mit großer Wirkung auf nachfolgende Generationen. Eine Beschäftigung mit ihrem Schaffen ist für alle Cineasten und jene, die es werden wollen, äußerst lohnend.

Hitchcock-Filme liefen in den Achtzigerjahren, als ich gerade begann, Kinofilme aufmerksam zu verfolgen, immer noch in den besten TV-Hauptsendezeiten. So bekam ich die Chance, Klassiker wie „Die Vögel – The birds“ von 1963, „Vertigo“ von 1958 und „Fenster zum Hof- in eng.  Rear Window“ von 1954, zu sehen. Im Kino liefen Hitchcock-Filme nicht mehr, und wenn, dann nur als Reprise in Festivals.

Erst viele Jahre später begriff ich den cineastischen Einfluss Hitchcocks. Das 1962 geführte Interview des französischen Filmemachers François Truffaut mit Alfred Hitchcock verlieh der Arbeit des Meisterregisseurs einen zusätzlichen intellektuellen Schub. Truffauts befragte Hitchcocks Meinung über jeden einzelnen seiner Filme und gilt als cineastisches Standardwerk für Filmhistoriker und angehende Filmemacher.

Die Filmkarriere des 1899 in einer Londoner Vorstadt geborenen Briten begann schon recht früh. Hitchcock produzierte von 1922 bis 1929 insgesamt zehn Stummfilme, von denen viele immer noch sehenswert sind, wie „The lodger“ von 1927 und im selben Jahr „Downhill“. Zur Einordnung. Charlie Chaplin, ein weiterer Engländer, der in Hollywood Karriere gemacht hatte, brachte 1925 seinen Klassiker „The Gold Rush“ heraus. Der deutsche Regisseur Fritz Lang veröffentlichte 1922 seine legendären Dr. Mabuse Filme und 1927 seinen Klassiker „Metropolis“.

Alfred Hitchcocks britische Stummfilme hatten zwar nicht das Echo und die Bekanntheit erreicht, dennoch zeugten sie von dem Talent des Regisseurs, der insgesamt 53 Filme drehen sollte und dessen große Erfolge noch bevorstünden. Der 1935 in Großbritannien gedrehte Spionagethriller „The 39 steps“ ist ein großartiger Film, der immer noch spannend anzusehen ist und zu meinen Favoriten zählt. Auch die Krimikomödie „The Lady vanishes“ von 1938 ist ein zeitloser und unterhaltsamer Film. Der Film „Sabotage“ von 1936, basierend auf Joseph Conrads Roman „The Secret Agent“, ist ein solider Film mit packender Geschichte und tollen Aufnahmen des Londons der Dreißigerjahre.

Hitchcocks Talent bestand darin, Unterhaltungsfilme mit Qualitätsniveau zu drehen, um das Publikum zu fesseln und zu begeistern. Seine Filme waren nie zu lang oder zu kurz, setzten auf Spannungsmomente, die er später perfektionieren sollte und die zu seinem Markenzeichen wurden. Die meisten seiner Filme waren erfolgreich, manche mehr als andere – was eine große Leistung ist – und wurden mit den besten Schauspielern der Zeit besetzt.

Als er in die USA emigrierte, wo es für Filmschaffende mehr Möglichkeiten und mehr Geld gab als in Europa, das in den Vierzigerjahren gerade im Zweiten Weltkrieg versank, bekam seine Laufbahn einen neuen Antrieb, der ihn zu Kultfigur machen sollte. In Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Drehbuchautor Ben Hecht und dem Produzenten Harry Selznick schuf er geniale Filme mit Superstars wie Gary Grant, Ingrid Bergmann, Gregory Peck, James Stewart oder Joan Fontaine, die zu Kassenschlagern wurden.

Die Handlung der Filme war sehr unterschiedlich: Manche basierten auf erfolgreichen Bühnenstücken wie „Rope“ 1948 oder „Dial M for Murder“ 1954, andere auf erfolgreiche Romane von Daphne du Maurier „Jamaica Inn“ 1939 und „Rebecca“ 1940, oder der noch jungen amerikanischen Schriftstellerin Patricia Highsmith, dessen Debütroman „Strangers on a train“ 1951, das gerade ein Jahr zuvor als Buch veröffentlicht worden war. Beim Drehbuch der genialen Geschichte schrieb übrigens auch der bekannte Krimiautor Raymond Chandler mit. Das war übrigens die einzige Verfilmung eines Romans von Highsmith durch Hitchcock, die später noch viel bessere und großartigere Bücher schreiben sollte, aber für den Regisseur zu mysteriös und hintergründig war.

Hitchcocks Spezialität war es, das Publikum mit Spannung und Romanze zu unterhalten, ein bisschen Schock hier, ein bißchen Makabres dort, aber nicht tief in die menschlichen Abgründe zu tauchen und schon gar nicht Perversion und Absurdität auf die Leinwand zu bringen. Hitchcock achtete auf visuelle Details, setzte Musik und Wort harmonisch ein und schaffte es, die Qualität seiner Filme im Laufe seiner Karriere immer zu halten. Mein Hitchcock-Favorit ist und bleibt der 1959 gedrehte Spionage Thriller „North by Northwest“ mit Gary Grant und den unvergesslichen Kampfszenen auf dem Mount Rushmore im US-Bundesstaat South Dakota. Die spritzige Handlung voller Überraschungen und Wendungen, die Kamerafahrten, die Musik, die Komik und der „Suspense“ sind einzigartig und oft kopiert. Der „Master of suspense“, wie Hitchcock genannt wurde, hatte zahlreiche cineastische Innovationen eingeführt, Trotzdem gewann er nie den Oscar für die Regiearbeit eines seiner Filme, auch wenn diese dutzende Male nominiert wurde.

Jeder, der verstehen und lernen will, wie Spannungselemente und überraschende Wendungen in eine Geschichte einzusetzen sind, der sollte Hitchcocks Filme studieren. Sir Alfred war übrigens auch als Schriftsteller und Verleger tätig, und publizierte viele Bücher mit eigenen und von anderen Autoren verfassten Kursgeschichten, meist aus dem Thriller-, Horror- und Krimi-Genre.

Im Jahr 1941, als Hitchcock seinen Film „Suspicion“ veröffentlichte, kam Orson Welles Opus „Citizen Kane“ heraus und löste eine Kettenreaktion an Emotionen aus, die von Bewunderung bis Ablehnung reichten, aber „Citizen Kane in den folgenden Jahren zu einem Jahrhundertfilm etablierten, der auf beinahe allen 100-Besten-Filme-Listen landete und bis heute unaufhörliche Anerkennung erfährt.

Orson Welles war damals schon ein erfolgreicher Theater- und Radiomacher, dessen Broadway-Produktionen legendär und außergewöhnlich waren, und dessen extravagante Radioprogramme ein Millionenpublikum erreichten. Citizen Kane und andere Welles-Werke liefen in den achtziger und neunziger Jahren ebenso nicht mehr im Fernsehen und waren auch nicht im Kino zu sehen, außer in speziellen Retrospektiven. Wollte einer Welles Filme sehen, musste er oder sie sich die Filme im Arthouse-Verleih ausleihen oder sich im Internet eine DVD erwerben.

Seine Filme blieben dennoch für aufmerksame Cineasten präsent und wurden immer wieder in der Fachliteratur zitiert. Dabei fand ich Citizen Kane beim ersten Ansehen gar nicht so umwerfend, wie oft gepriesen. Erst beim zweiten und dritten Schauen offenbarte sich mir die Qualität und der hohe künstlerische Wert. Die Geschichte rund um den superreichen Charles Foster Kane, der sich Medienhäuser erwirbt und in die Politik geht, ist eine geniale, US-amerikanische Parabel über Gier und Machtrausch.

Im Gegensatz zu Hitchcock war Orson Welles ein begnadeter Schauspieler, der schon in jungen Jahren auf der Bühne stand und später als Impresario Theater leitete und Bühnenstücke aufführte. In fast allen seinen eigenen Filmen spielte er die Hauptrolle: Citizen Kane, The Stranger, The Lady from Shanghai, Othello, Macbeth oder Touch of Evil.

Trotz der Qualität der Filme kamen sie beim amerikanischen Publikum der vierziger bis Fünfzigerjahre nicht gut an und konnten kaum ihre Kosten einspielen. Als Schauspieler in Filmen anderer Regisseure hatte er finanziell meistens mehr Glück, wie in „Der dritte Mann“, unter der Regie des Briten Carol Reed im Jahr 1949. Der Film gilt als eines der großen Meisterwerke der Nachkriegsjahre und wurde in von den Bomben der Alliierten getroffenen Wien gedreht, wo die Handlung des Graham Greene-Romans spielt. Die Figur des Doppelagenten Harry Lime, hat Orson Welles’ Popularität massiv geholfen und eine ganze Menge an Literatur und Dokumentationen über den Film nachfolgen lassen.

Trotz des Erfolgs konnte Welles für seine extravaganten Filme in Hollywood nur wenig Kapital aufstellen. Als seine freie Shakespeare Adaption Macbeth bei der Kritik durchfiel, zog er nach Europa, wo er größere Anerkennung genoß. Filmemacher wie François Truffaut oder Jean-Luc Godard nannten Welles ein künstlerisches Vorbild, auch wenn dieser sich in späteren Jahren von den französischen Nouvelle Vague Filme distanzierte.

Einer der Welles-Filme, die mich inspirierten, ist der Kriminalfilm „Touch of Evil“ von 1958 mit dem damals sehr berühmten Hollywood Star Charlton Heston und der legendären Deutschen Greta Garbo. Der Film wurde ein künstlerischer Erfolg und beeinflusste viele jüngere Regisseure mit seiner Kameraführung, der Beleuchtung, und dem expressionistischen Stil.

Orson Welles ungewöhnliche Verfilmung von Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ mit Romy Schneider und Anthony Perkins wurde von europäischen Geldgebern produziert und hat seine Reputation als Meisterregisseur untermauert. Sein Film „Chimes at Midnight“ von 1965, dessen Drehbuch er selbst nach Vorlagen von Shakespeares Stücke verfaßt hat, ist ein Höhepunkt seines Schaffens und einer meiner Filmfavoriten. Die Aufnahmen sind von außergewöhnlicher Qualität und spiegeln die Virtuosität Welles wider.

Der große und bullige Meister mit der tiefen Stimme erschien noch häufig in Filmen anderer, von James Bond Bösewicht bis Moby Dick, von Die Schatzinsel bis Waterloo, und blieb so auf der Leinwand mit seinem imposanten Auftreten präsent. Hitchcocks Filme betrachtete Welles in Interviews und Aussagen als zu brav, zu prüde, zu angepasst, und manchmal abschätzig als reine Fernsehunterhaltung. Wie viele große Künstler hatte er sich ein extravagantes Ego angeeignet und teilte in seinen letzten Jahren gerne aus, auch gegen andere Künstler, die ihm Bewunderung zollten.

Welles starb nur fünf Jahre nach Hitchcock und hinterließ wie sein britischer Kollege, der zum Sir geadelt wurde, ein großes Vermächtnis. Beide waren sie Pioniere und Wegbereiter des modernen Kinos, haben essenzielle Filme beigesteuert und mit ihrem Schaffen technische Grenzen überschritten und neu gesetzt. Vor allem haben sie dazu beigetragen, das Medium Film zu einer bedeutungsvollen Kunstgattung zu erheben.

Mike Masuri, Juni 2025