Eine Hommage an den französischen film noir ist ohne die Erwähnung von Jean Pierre Melville vergebens und unvollständig. Den ersten Melville sah ich Anfang der Neunziger Jahre in einem Kino in Wien, wo eine Retrospektive seines Schaffens gezeigt wurde. Es war nicht sein berühmtester Film, aber einer seiner besten: L´armee des ombres (Die Armee im Schatten) aus dem Jahre 1969 mit bekannten französischen Filmgrößen wie Lino Ventura, Jean Pierre Cassel und Simone Signore. Die Handlung drehte sich um Untergrundkämpfer der französischen Resistance während des Zweiten Weltkriegs. Ein düsterer Film, der ohne jeden Pathos die Geschichte von Verfolgung, Angst, Folter und Flucht in nüchternen Schwarzweiß-Bildern erzählt und mich an die Intensität des italienischen Neorealismo des Regisseurs Roberto Rosselini erinnerte. Ich war sofort von der Darstellung der Charaktere gefesselt und wollte unbedingt weitere Filme des Regisseurs sehen, dessen Name mir schon oft untergekommen war.
Berühmt wurde Melville vor allem durch seine Gangsterfilme, die viele Regisseure bis heute beeinflußten und inspirierten. Dabei drehte er meist unter schwierigsten Umständen, mit knappen Budgets und technischen Herausforderungen. Trotzdem schaffte er einen originellen, wiedererkennbaren Stil, der all seine Werke durchzieht und der ihn für Cineasten unsterblich gemacht hat.
Zu meinen Favoriten zählen Filme wie Bob le Flambeur von 1956, über einen professionellen Spieler und ehemaligen Bankräuber, der sich wieder auf einen großen Casino-Raub einläßt. Die Straßenszenen von Paris der Fünfziger Jahre, gedreht mit Handkameras, schnellen und eckigen Schnitten, sind legendär und gelten als Pionierleistung der Nouvelle Vague-Filme, die nachfolgend großen Einfluß gewannen. Die Geschichte um den Gentleman Gangster Bob Le Flambeur wurde mehrmals von englischsprachigen Regisseuren in USA und Europa als Remake verfilmt. Was ein wunderbares Paradigma für den gegenseitigen künstlerischen Einfluß ist. Immerhin schöpfte Melville seine eigenen Ideen von der Kreativität des US-Kinos der Dreißiger und Vierzigerjahre und versuchte, den Hollywood-Stil in Frankreich neu zu interpretieren.
Mein zweiter Favorit ist sein geniales Gangsterdrama Le Doulos von 1962 mit Jean Paul Belmondo und Serge Reggiani. Es ist kein Actionfilm, kein Film mit Ballerei und Autoverfolgungsjagden, eher dialoglastig und dennoch von der ersten bis zur letzten Minute ein packendes Drama über das verhängnisvolle Gangster-Milieu, von Betrug, Lüge, Verrat, Rache und der Spirale des Verbrechens, der die Protagonisten nicht entkommen können. Zwei Jahre zuvor hatte Jean Paul Belmondo mit Jean-Luc Godard den legendären und heute als Klassiker des Nouvelle Vague geltenden Film A´ bout de souffle (Atemlos) gedreht, wo er als sympathischer Großstadt-Ganove auftrat und seine ganze Karriere hindurch sein Image prägte. In Le Doulos hat er praktisch denselben Charakter in eine neue Geschichte verkörpert.
Ein anderes Gangsterdrama: Le deuxiéme souffle (Der zweite Atem) von 1966 mit Lino Ventura in der Hauptrolle zählt für mich zu einem der besten film noirs. Im Grunde ist die Handlung im Kern ähnlich gestrickt wie Le Doulos. Ein Ganove wird nach Absitzen seiner Strafe aus dem Gefängnis entlassen und gerät durch schicksalshafte Wendungen und Pech wieder in das Räderwerk der Unterwelt, wird zum Mörder und Gejagten. Die Polizisten arbeiten praktisch mit denselben Methoden wie die Kriminellen und die Unterscheidung zwischen Gut und Böse verschwindet in einer unbarmherzigen Jagd, die am Ende in einem Blutbad mündet.
Ein Jahr nach Le deuxiéme souffle hat Melville seinen berühmtesten Gangsterfilm gedreht. Le Samouraï von 1967 hat Generationen von Filmschaffenden aus unterschiedlichen Kulturen begeistert, inspiriert und künstlerisch beeinflußt. Die Beleuchtung, die Farben, die Kameraführung, die Bildeinstellungen, jede Szene, jede Bewegung dieses Filmes wurden zum Kult und Vorbild. Die Figur des kühlen, ruhigen und konzentrierten Profikillers wurde zum Stilbild und zur Popikone in Musik, Literatur und Film, wie kein anderer französischer Film. Le Samouraï ist und bleibt ein Meilenstein des Weltkinos, dessen Einzigartigkeit und visionäre Kraft immer noch begeistern und dessen Motive immer wieder in Filmen auftauchen.
Es gab aber auch andere französische Regisseure, die geniale film noir geschaffen haben. Einer von ihnen: Louis Malle mit seinem 1958 realisierten Ascenseur pour l´echafaud (Aufzug zum Schafott) über ein Liebespaar, das einen Mord plant und das Problem mit einem Aufzug zum Verhängnis wird. Ähnlich wie in Le Samouraï zeigt auch Louis Malles Debüt unvergessliche Szenen. Wenn Jeanne Moreau in Schock und Trauer nachts durch die Champs-Élysées wandelt, begleitet von Miles Davis’ elegischer Jazzmusik, ist das eine Sternstunde des Kinos. Der Film ist kein Gangsterfilm, eher ein Krimidrama, dennoch spannend und wunderbar verfilmt, und ein beeindruckender Klassiker der Nouvelle Vague.
1960 hat auch François Truffaut einen film noir auf die Leinwand gebracht, der seinen Ruf als Regisseur brandmarkte und zu einem Klassiker werden sollte. Die Geschichte des melancholischen Pianisten Édouard Saroyan in Tirez sur le pianiste, der von Chansonnier Charles Aznavour gespielt wird. Er erzählt von Erfolg und Fall eines Musikers, und von verrückten Gangstern, die sich in das Geschehen einmischen und die Tragödie zu einem tödlichen Höhepunkt führen. Übrigens hatte Truffaut die Rolle von Anbeginn Aznavour auf den Leib geschrieben, was den Film mit seiner haargenauen Besetzung so großartig gemacht hat.
Einen film noir mit großer Wirkung hat der französische Regisseur Henri-Georges Clouzot 1955 mit seinem Thriller Les Diaboliques herausgebracht. Ebenso wie ein perfider Mordsplan wie in Ascenseur pour l´echafaud, steigert Clouzots Film mit unerwarteten Wendungen die Spannung, die sogar Hitchcocks Thriller übertreffen und den Master of Suspense in seinem 1960 gedrehten Film Psycho beeinflußten. Clouzot hatte schon Jahre zuvor, mitten in den Wirren des Zweiten Weltkriegs, 1943 einen außerordentlichen Psychothriller namens Le corbeau, über eine Reihe mysteriöser, anonymer Briefe, die in einer französischen Kleinstadt die Bewohner in Angst versetzten, gedreht, der meiner Meinung nach, von großer Qualität ist.
Einer meiner film noir-Favoriten in Schwarz-Weiß ist auch: Un témoin dans la ville von 1959 ein ungewöhnlicher Thriller von Edouard Molinaro, der in späteren Jahren mit Komödien wie der Schwulenparodie “”La cage aux folles (Ein Käfig voller Narren) international berühmt wurde. In seinem Thriller Un témoin dans la ville, (wörtlich auf Deutschübersetzt: Ein Zeuge in der Stadt) spielt Lino Ventura einen Rächer, der den Mörder seiner Ehefrau, in dessen Haus umbringt, doch von einem Taxifahrer, den der Ermordete zuvor bestellt hatte, ertappt und erkannt wird. Aus Angst, der Taxifahrer könnte als Zeuge bei der Polizei aussagen, versucht er, den Mann zu ermorden, und löst damit eine rasante und spektakuläre Verfolgungsjagd durch das nächtliche Paris aus, die für 1959 bemerkenswert ist. Siebenundzwanzig Jahre vor Martin Scorseses Klassiker Taxi Driver setzte schon Molinaro in seinem Film Taxi-Chauffeure ein cineastisches Denkmal.
- Einen Höhepunkt des französischen film noirs stellt für mich Claude Sautets Film Max et les ferrailleurs von 1971 dar. Der deutsche Filmtitel: Das Mädchen und der Kommissar“ klingt, finde ich, wesentlich besser, als die wörtliche Übersetzung „Max und die Schrotthändler“. Doch Claude Sautet, der schon 1960 einen anderen, packenden Kriminalfilm mit Belmondo und Ventura realisiert hatte, ging es nicht so sehr um einen spannenden Krimi, sondern um die Beziehung zwischen einem Polizisten und einer Gangsterbraut, großartig gespielt von Romy Schneider und Michael Piccoli, die immer wieder in Filmen gemeinsam auftraten. In keinem anderen Film war Romy Schneider so schön anzusehen und schaffte es, ihre Verletzlichkeit, ihre Eleganz und Leidenschaft so grandios darzustellen. Sautet vermochte es, die Chemie zwischen Piccoli und Schneider so präzise und nachvollziehbar zu inszenieren, dass die wirkliche Handlung in den Hintergrund tritt. Ein Meisterstück, das nur wenigen Filmemachern gelang.
Ende der Siebzigerjahre und zu Beginn der Achtzigerjahre konnte der französische Film mit der Dominanz und finanziellen Macht des Hollywoodkinos nicht mehr mithalten. Das Kinopublikum fand US-amerikanische Gangster- und Kriminalfilme spannender und interessanter, und so verloren innovative französische Eigenproduktionen an Markt und wurden durch rein kommerzielle Actionfilme ersetzt, die an Originalität vermissen ließen. Jean Pierre Melville selbst starb 1973 gerade mal fünfundfünfzig Jahre alt. Sein filmisches Vermächtnis lebt allerdings weiter.
Mike Masuri, August 2025
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