Als der italienische Film das Kino veränderte

La Notte Filmposter

Der italienische Film erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg eine kreative Blütezeit, die mit Neorealismo bis Italo-Western neue Stile und vor allem Künstlerpersönlichkeiten berühmt machte, deren Schaffen bis heute nachwirkt. Jedem Filmliebhaber sind Namen wie Roberto Rossellini, Vittorio de Sica, Luchino Visconti oder Federico Fellini ein Begriff. Ihre Filme haben nach 1945, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, Filmgeschichte geschrieben, internationale Auszeichnungen gewonnen und Grenzen überschritten, die die Kunstform neu definiert und bereichert hatten. Sogar berühmte Hollywood Schauspieler wie Anthony Quinn, Burt Lancaster, Marlon Brando oder Jack Nicholson wollten mit diesen italienischen Regisseuren Projekte umsetzen, von denen viele heute cineastische Klassiker sind.

Frederico Fellini war der erste italienische Regisseur, dessen Filme mich begeisterten und überraschten. Der erste Fellini, den ich sah, war sein Meisterwerk „La Strada“ aus dem Jahre 1954. Der Film lief eines Abends als Klassiker im österreichischen Fernsehprogramm, einige Wochen nachdem ein anderer italienischer Klassiker: „Riso amaro – Bitterer Reis“ von 1949 im Nachmittagspogramm gezeigt wurde. Damals war ich noch zu jung, um „Riso amaro“ zu verstehen und zu verarbeiten, aber die Figur des groben Schaustellers Zampano, die der amerikanische Schauspieler Anthony Quinn darstellte, grub sich unmittelbar in mein Gedächtnis ein und entfachte mein Interesse für den Film. „La Strada“ ist eine mythische, absurde und leidenschaftliche Geschichte, eine Art „Roadmovie“ über Zirkusleute. Romantik kam keine im Film auf, denn die Spannung zwischen den unterschiedlichen Charaktere, der brutale Kraftmensch Zampano und seine Assistentin, die verträumte, naive Gelsomina, die trotz aller Enttäuschungen und Traurigkeit Lebensfreude, Güte und Menschlichkeit nicht aufgeben will, trägt diesen außergewöhnlichen Film zu einem tragischen Ende.

Nach „La strada“ sah ich eine Reihe anderer Fellini-Filme: „Dolce Vita“, der zu einem filmischen Meilenstein und Kultfilm wurde (vorwiegend durch die nächtliche Fontana-di-Trevi-Brunnenszene mit Anita Ekberg), den auch jene kannten, die den Film nie gesehen hatten. 

Fellinis Zusammenarbeit mit dem herausragenden, italienischen Schauspieler Marcello Mastroianni entpuppte sich als Erfolg. Sie drehten gemeinsam Filme wie „La citta delle donne- Die Stadt der Frauen“, „8 ½“ oder eben „La dolce Vita“, die zu unvergesslichen Höhepunkten der Filmgeschichte wurden. Die Anfangsszene von „8 ½“, als Mastroianni in seinem Fahrzeug in einen Stau gerät und plötzlich bemerkt, dass ihn alle anderen Menschen in den Fahrzeugen anstarren, ist einer dieser magischen Momente.

Fellinis Charaktere sind so markant, bizarr und unverwechselbar, dass sie den Ruf und den Ruhm des Regisseurs prägten. Niemand konnte humorvolle Komödie und schonungslose Tragik so kunstvoll verknüpfen und ineinander übergehen lassen. Fellini war ein wagemutiger Künstler, der Neues ausprobierte, der sich nicht davor scheute, Bilder auf die Leinwand zu zaubern, die damals noch nie jemand gesehen hatte. Ich erinnere mich gut an seinen Film „Satyricon“ von 1969, der in der römischen Antike angesiedelt ist und mit archaischen und mysteriösen Bildern eine untergegangene Welt heraufbeschwor, die man bisher im Kino so nicht gesehen hatte. Im Vergleich zu den epischen Sandalen-Blockbustern in Cinemascope der 60er Jahre wie „Quo vadis“, „Benhur“ oder „The fall of the roman empire“ war Satyricon ein absoluter Kontrast: grausam, exotisch und unkonventionell, ja geradezu obszön und sicherlich der historischen Wahrheit näher als die Mega-Produktionen.

Frederico Fellini gilt als einer der größten Regisseure, doch er war auch Drehbuchautor und arbeitete mit einem anderen bedeutenden Filmschaffenden zusammen: Roberto Rossellini.

Gemeinsam mit meiner Mutter, die eine große Verehrerin der schwedischen Schauspielerin Ingrid Bergmann war, sah ich in den 80er Jahren Rossellinis Film „Stromboli“, gedreht 1950. Mit der von Ingrid Bergmann gespielten Frauenfigur Karin konnte sich meine Mutter auf Anhieb identifizieren und ihren Leidensweg nachfühlen. Es war ein seltsamer, ungewöhnlicher Liebesfilm, in der urgewaltigen Landschaft der vulkanischen Insel Stromboli, die karg und schön zugleich ist. Als Siebzehnjähriger, konnte ich die Botschaft des Filmes nicht begreifen, dennoch konnte ich die Zerrissenheit und Trauer der Frau, die sich in der Gesellschaft nicht integrieren konnte, gut nachvollziehen. Danach sah ich lange keine anderen Rossellini Filme, die weder im Kino noch im Fernsehen gezeigt wurden. Rossellini selbst verstarb 1977.

Erst durch meine Begeisterung für den US-amerikanischen Regisseur Martin Scorsese, der aus einer italienischen Einwandererfamilie stammt, kam ich wieder mit Rossellinis Arbeit in Berührung. Scorsese ist ein großer Kenner des italienischen Films der Nachkriegszeit, vorwiegend des Neorealismus, und hat sogar eine sehr differenzierte Dokumentation über seine persönlichen Erlebnisse mit diesen Filmen produziert (My voyage to Italy, 1999)

Als ich Rossellinis Film „Roma, cittá aperta – dt. Rom,  offene Stadt“ sah, war ich sofort fasziniert und ergriffen. Der Film wurde 1945 gedreht, kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges, als die Trauer, die Wunden und die Angst noch in den Menschen nachwirkten. Die Geschichte über italienische Partisanen, die sich gegen die Nazi-Herrschaft zu wehren versuchen, mit starken Charakteren, die bereit sind, ihr Leben für ihre Ideale und Werte zu opfern, ist immer noch ein bewegendes Seherlebnis. Roma, città aperta zählt zu meinen absoluten Lieblingsfilmen. Auch Rosselinis Film „Paisan“ von 1946, ein Episodenfilm, ist ein dramatisches Meisterwerk, das sich mit der Widerstandsbewegung und den Folgen des Krieges in Italien emotional und spannend auseinandersetzt. Rossellini ist einer der wenigen Regisseure, die 1948 in dem von Bomben der Alliierten weitreichend zerstörten Berlin, eine herzzerreißende Geschichte über das Schicksal eines deutschen Jungen unter der Besetzungsmacht drehte; “Germania-anno zero.“

Im selben Jahr verfilmte der italienische Regisseur Vittorio de Sica einen seiner berühmtesten Filme: „Ladri di bicicletta- Der Fahrraddieb“, ein Höhepunkt des Neorealismus und ein zeitloses Meisterwerk über Not und Existenzangst. Der Film spielt im Nachkriegsitalien, in der Hauptstadt Rom und erzählt von dem verzweifelten Arbeiter Antonio Ricci, der in der Alltagskrise versucht, seine Familie zu ernähren und eine Arbeit zu finden. Als ihm sein Fahrrad gestohlen wird, das ihm eine Arbeit verschaffte, gerät er in dramatische Existenznot. Der Film hat mich emotional und menschlich tief berührt. Ich konnte die Enttäuschung, die Verzweiflung und die Angst des Arbeiters Riccis gut nachvollziehen und mich in seiner Lage hineinversetzen und Mitgefühl empfinden. Und genau das wollte der „Neorealismus“ erreichen: dass das Kinopublikum die Nöte und Dramen der Darsteller erkennt und mit ihnen fühlt, sich solidarisiert und begreift, was in ihnen vorging, was sie durchgemacht haben und was der Grund für ihr Leiden war.

De Sica war schon 1946 mit seinem rührenden Film „Sciusciá“ über Kinder, die als Schuhputzer Geld verdienen müssen und dafür sparen, ein Pferd zu kaufen, erfolgreich und gewann sogar den ersten Auslandsoscar für einen italienischen Film.

Sein Film „Umberto D.“ von 1952 über einen alten Mann, der in Armut und Not gerät und von seiner Umwelt hin- und hergestoßen wird, ist auch ein hervorragendes Beispiel für den „Neorealismus“, der sich mit der Tragik einfacher Menschen beschäftigt, und Fragen über Humanismus, Solidarität und Gerechtigkeit in den Raum stellt.

Vittorio de Sica, der auch als grandioser Schauspieler in vielen Unterhaltungsfilmen mitspielte und so Geld für seine eigenen Filmproduktionen erwarb, ist bis heute ein lebendes Filmmonument in Italien, vorallem durch die erfolgreiche Komödie „Pane, amore e geliosia“ aus dem Jahre 1954, die das italienische Lebensgefühl der Nachkriegszeit wunderbar spritzig verfilmt.

Ein bemerkenswerter Film im Stil des Neorealismus ist der 1966 gedrehte halbdokumentarische Film “La battaglia di Algeri- dt. Titel: Schlacht Algier” von italienischen Regisseur Gillo Pontecorvo. Der Film gilt als ein großartiges Meisterwerk, das Generationen von Filmschaffenden bis heute fasziniert, begeistert und als Vorlage in Filmhochschulen zum Studium dient. Es ist die wahre Geschichte eines Widerstandskampfes der Bewohner von Algier und einer Guerilla Armee gegen die französische Kolonialmacht, dass die Grausamkeit der Unterdrückung und den Protest sehr realistisch, eindrucksvoll und mit damals sensationeller visueller Kraft wiedergibt. “La battaglia die Algeri” erhielt zahlreiche Auszeichungen und gilt als Kultfilm, der die Zeiten überdauert hat.

Ein anderer Italiener, der ebenso im „Neorealismus“ künstlerisch beheimatet war, und zu einer der ganz großen Regiepersönlichkeiten avancierte, war Luchino Visconti. Er galt als “Vater des Neorealismus”, der das Genre mit seinem ersten Film „Ossessione“ von 1943 begründete, die Verfilmung des amerikanischen Romans von James M. Cain „The postman always rings twice“. Viscontis Interpretation ist ein gelungenes Beispiel für die fabelhafte Adaption eines Romans in ein Drehbuch, das das Original sogar übertrifft. (Siehe meinen Blogbeitrag: Literatur im Kino)

Der Film Ossessione fiel im damals noch faschistischen Italien wegen seines Themas des Ehebruchs und der Darstellung der Alltagsrealität der einfachen Leute, recht schnell der Zensur zum Opfer und wurde verboten, was dessen Berühmtheit keinen Abbruch tat. Luchino Visconti und andere im neorealistischen Stil gehaltene Filme wie „Bellissima“ oder „Le notti bianchi“, die Adaption einer Geschichte von Fydor Dostrojewsky, die 1957 den Silbernen Löwen der Filmfestspiele von Venedig gewann, bauten seine Reputation als Meister auf.

Seine berühmtesten Werke „Rocco e i suoi fratelli – dt. Rocco und seine Brüder“ von  1960 und „Il gattopardo –  Der Leopard “ 1963 machten bald Furore und zählen zu den berühmtesten italienischen Filmen. Visconti, der selbst aus einer adeligen Familie stammte und sich im Milieu der Aristokraten und Wohlhabenden auskannte (wenn nicht sogar beheimatet fühlte), schuf mit „Il gattopardo“, einen elegischen Abgesang auf das untergehende Zeitalter der italienischen Fürstentümer. Ich sah „Il gattopardo- Der Leopard“, erst viele Jahre später, praktisch fünfzig Jahre nach dessen Produktion, und konnte die Lobeshymnen nicht ganz nachvollziehen. Der Film ist langatmig, bietet kaum Höhepunkte und ist weniger dramatisch als die literarische Vorlage von di Lampedusa. Dennoch: Die Mitwirkung des Franzosen Alain Delon und des Hollywoodschauspielers Burt Lancaster hob den Film aus der Masse und setzte ihn auf einen Thron.

Persönlich finde ich die Filme „Morte e Venezia- Tod in Venedig“ von 1971 und „La caduta degli dei- dt. Die Verdammten“ von  1969 als seine besten Werke, punkto szenischer Gestaltung, Schauspielerleistung und inhaltlicher Konsistenz. Sein Film „Die Verdammten“ wurde wegen freizügiger Szenen verurteilt, ist aber ein sehr feines Porträt über den moralischen und ökonomischen Verfall einer reichen Industriellenfamilie. Und über „Tod in Venedig“ mit dem genialen Dirk Bogarde kann ich nichts mehr hinzuzufügen, als dass es ein künstlerisches Juwel ist.

Ein weiterer italienischer Regiemeister, der auch mit Roberto Rossellini zusammenarbeitete und sich in den 30er und 40er Jahren dem Neorealismus verbunden fühlte, von diesem sich aber später abwandte und seinen eigenen Stil fand, war Michelangelo Antonioni.

Antonioni galt nicht als einer der erfolgreichsten, aber als einer der bekanntesten Vertreter des modernen Films in Italien, der international berühmt wurde und von Cineasten und Filmschaffenden für seine ungewöhnlichen Filme und Inhalte bis heute respektiert wird.

Ich habe einige Antonioni Filme gesehen, von denen „La notte- Die Nacht“ von 1961 mit Marcelo Mastroianni und der wunderbaren Jeanne Moreau mir sehr prägsam in Erinnerung blieb, insbesondere die Außenaufnahmen von Mailand der 60er Jahre, das damals gerade einen urbanen Wandel erlebte. Die Handlung tritt, wie in vielen Antonioni-Filmen, oft in den Hintergrund und wird dominiert von den Bildern, den Einstellungen, den visuellen Emotionen, die der Regisseur beim Publikum auslösen wollte.

Persönlich finde ich Antonionis Film „L´Aventura“, von 1960, eine Beziehungsgeschichte mit wunderbaren Aufnahmen von verschiedenen Orten auf Sizilien, Rom und an der italienischen Küste ( auch unweit der Insel Stromboli, wo Rossellini seinen Film drehte). Auch hier ist die Handlung, rund um das Verschwinden einer Frau auf der Insel, eher der Rahmen für die visuelle Kraft des Films.

Der Film „Blow up“ von 1966 ist eines der berühmtesten Werke Antonionis, der auch kommerziell erfolgreich war und seinen Ruf auch international bestätigte. Der Film spielt in London der Sechzigerjahre und ist mit englischsprachigen Schauspielern besetzt. Die Filmmusik von dem genialen Jazzmusiker Herbie Hancock und der britischen Rockband The Yardbirds, die auch einen Auftritt in dem Film haben, zählt zu den Besten. Die Handlung folgt einem Photographen, der in seinen Aufnahmen eine tote Person entdeckt und glaubt, einem Mordfall auf der Spur zu sein. Was aber keineswegs der Beginn einer detektivischen Mördersuche mit „suspense“ ist,  eher ein bizarrer Thriller über Täuschung und die Sehnsucht nach dem Erkennen des Besonderen. “Blow up”  hat seine eigene Filmsprache und diente vielen anderen Regisseuren als Inspiration.

Ein Antonioni Film, der weniger erfolgreich war als „Blow up“, aber dennoch eine außergewöhnliche Qualität besitzt, ist „The Passenger-  auf Italienisch: : Professione-reporter“ von 1975 mit Jack Nicholson in der Hauptrolle, der mir wegen seiner visuellen Abstraktion und der Handlung hervorragend gefallen hat. Antonioni bleibt ein kreativer Erneuerer des Kinos und einer der größten Filmemacher.

Einer, der ebenso als Erneuerer, aber auch als Provokateur gilt, ist der italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini, der mich als Künstler in meinem Denken und meinem Schaffen imponierte und beeinflusste. Pasolini war einer, den man heute als Linksintellektuellen bezeichnen könnte, der unter dem Einfluss des Kommunismus stand, und dennoch über die ideologischen Grenzen hinweg, seine Artikel, Romane, Gedichte und Drehbücher veröffentlichte.  Als Homosexueller im konservativen Italien sah er sich den Außenseitern und den Menschen am Rande der Gesellschaft verbunden. Seine ersten Filme standen im krassen Gegensatz zu Antonionis „L´Aventura“ oder Fellinis „La dolce vita“, die die aufstrebende Mittelklasse der 60er Jahre in Italien und ihr konsumorientiertes, oberflächliches Leben porträtierten. In „Accatone“, 1961 und „Mamma Roma“ , 1962 machte Pasolini Filme über Zuhälter, Prostituierte, mittellose und marginalisierte Menschen, die in den Armenvierteln der römischen Großstadt lebten. Die Filme sind karg, düster, streckenweise trostlos und ernüchternd, standen in neorealistischer Tradition und offenbarten eine poetische Kraft, an der Pasolini im Laufe seiner Karriere weiterarbeiten sollte.

International bekannt wurde Pasolini mit seinem neorealistischen Jesus Film: „Il vangelo secondo Matteo“ von 1964, der als einer der besten Filme über Christus gilt und sogar vom Vatikan gebilligt und weiterempfohlen wurde. In „Teorema“ von 1968, (dem ersten Film von Pasolini, den ich sah), konnte er professionelle Schauspieler bezahlen und hatte ein größeres Budget zur Verfügung. „Teorema“ ist dennoch ein provokatives, mystischer und kontroverser Film über das Leben der materialistischen Bourgeoisie in Mailand, der in einem eigenwilligen Erzählstil über Verführung, Glauben und Transformation erzählt. Ich sah den Film zur selben Zeit, als ich Jean Luc Godards „Weekend“ und Antonionis „Blow up“ sah, und begann, mich für Pasolini zu interessieren, auch wenn mich der Inhalt konfus zurückließ und ich viele Jahre später begriff, worum es eigentlich in dem Film ging.

Mein liebster Pasolini Film ist „Edipo Re“ von 1967 mit der großartigen Schauspielerin Silvana Mangano über die griechische Tragödie Ödipus Rex, der großteils in Marokko entstand. Es ist ein surreales, expressives und archaisches Meisterwerk, das zusammen mit Fellinis „Satyricon“, das ein Jahr danach entstand, meiner Meinung nach zu den eindrucksvollsten und wahrhaftigsten Filmen über die mediterranen Kulturen der Antike zählt.

Bis heute wird Pier Paolo Pasolini allerdings mit seinem letzten Film in Verbindung gebracht, dem „Salò o le 120 giornate di Sodoma- Saló oder die 120 Tage von Sodom”, von 1975, lose basierend auf Marquise de Sades unvollständigem und erst nach seinem Tod veröffentlichtem Roman: Les 120 Journées de Sodome ou l’école du libertinage, geschrieben 1785 im Gefängnis der Bastille, während außerhalb die Französische Revolution wütete. Über Pasolinis Version, die als der größte Skandalfilm aller Zeiten gilt, von der Zensur in vielen Staaten verbannt und verboten, ist viel geschrieben und debattiert worden. Es ist eine filmische Auseinandersetzung mit dem Thema Macht, Manipulation, Herrschaft und Totalitarismus, die letztlich zu Erniedrigung, Perversion, Sodomie und Mord führt. Ein Film, der in seiner drastischen Hartnäckigkeit sicherlich kein reines Vergnügen ist, verstört, anekelt, verschreckt und die Provokation bis zur Grenze ausreizt. Und gerade deswegen ist es ein essenzielles Kunststück, dass seine Bedeutung und seinen Platz in der Filmgeschichte erlangt hat. Der Film ist bis zum heutigen Tag lebendig geblieben, lief in Kinos weltweit, in endlosen Vorstellungen und war trotz des Skandals und der Empörung auch finanziell erfolgreich, was dem Erschaffer Pier Paolo Pasolini nichts mehr nützte, da er im selben Jahr von Unbekannten ermordet wurde. Er wurde nur 53 Jahre alt und verstarb wie zwei andere cineastische Wegbereiter, François Truffaut und Jean Pierre Melville, in seinen mittleren Lebensjahren.

Der italo-amerikanische Filmemacher Abel Ferrara hat 2014 mit William Dafoe einen Film über Pasolinis letzte Wochen gedreht, der die Atmosphäre und den Hintergrund des Mordes zu durchleuchten versucht. Pasolinis war ein widersprüchlicher, ein engagierter, ein kritischer und ein provokativer Geist und schuf sich durch seinen unkonventionellen Lebensstil Feinde aus dem Establishment, die so einen kreativen und schonungslosen Künstler als Bedrohung betrachteten. Sein künstlerisches Vermächtnis konnten sie trotz dieses kaltblütigen Mordes nicht auslöschen.

Ein anderer italienischer Regisseur, Bernardo Bertolucci, der mit Pier Paolo Pasolini befreundet war und auch mit ihm zusammenarbeitete, drehte einen anderen Skandalfilm der 70er Jahre: “Der letzte Tango in Paris,  mit Marlon Brando, der gewaltige Kontroversen und Proteste auslöste, und gerade deswegen im Laufe der Zeit einer der finanziell lukrativsten italienischen Filmproduktionen wurde.

Bertolucci gilt als einer der bekanntesten und international erfolgreichsten Regisseure Italiens, vorwiegend durch seinen opulenten Historienfilm über den letzten chinesischen Kaiser Puyi der Qing Dynastie, der von den marxistischen Revolutionsarmeen entthront wurde. „L’ultimo imperatore –  zu dt. Der letzte Kaiser” war 1987 eine cineastische Sensation, gewann zahlreiche Auszeichnungen und brachte den bisher einzigen Regie-Oscar eines italienischen Regisseurs. Ich zähle “Der letzte Kaiser”, zu einem der besten und hochkarätigsten Historienfilme aller Zeiten, der mit visueller Schönheit und einer grandiosen Besetzung ein unvergleichliches filmisches Erlebnis bietet.

Doch Bernardo Bertolucci hat schon davor Meisterwerke gedreht. Einer seiner ersten italienischen Filme: “Prima della rivoluzione“ von 1964, wurde von Kritikern und Publikum hochgeschätzt. Der Film handelt von jungen Menschen in den 1968-Protesten, als sich Marxisten, Kommunisten, Alt-Faschisten und Konservative ideologische Kämpfe lieferten. Ein sehr gelungener Film, der diese hitzige Periode hervorragend wiedergibt.

Einer meiner Favoriten ist Betoluccis “Il conformista“ von 1970, basierend auf einem Roman von Alberto Moravia, das sich über die Hauptfigur, einen Agenten der faschistischen Geheimpolizei in den 30er Jahren, mit Konformismus und Faschismus auseinandersetzt. “Il conformista” gilt als einer der visuell herausragendsten Filme überhaupt und hat Generationen von Regisseuren und Autoren inspiriert und begeistert, insbesondere das Können des italienischen Kameramanns Vittorio Storaro, der als einer der Größten seines Fachs gilt und sogar in Francis Ford Coppolas Meisterwerk „Apocalypse Now” die unvergesslichen Bilder schuf.

Ein weiteres episches Meisterwerk von Bertolucci ist sein 1976 gedrehter Historienfilm “1900 – Novencento”. Die Handlung dreht sich um zwei gleichaltrige Freunde in der italienischen Po-Ebene, den Landbesitzer Alfredo Berlinghieri (gespielt von Robert de Niro) und den Bauern Olmo Dalcò (gespielt von Gérard Depardieu).  Sie werden in sozialen, politischen und ökonomischen Kämpfen zwischen Kommunisten und Faschisten, verwickelt und können trotz aller widrigsten Umstände und des rigiden Klassensystems ihre Freundschaft über die Jahre hinweg erhalten. In einer Nebenrolle tritt auch Burt Lancaster auf, der 13 Jahre zuvor in Luchino Viscontis Historienfilm “Il gattopardo” die Hauptrolle gespielt hatte. „Novecento“ war trotz seiner Filmlänge erfolgreich, hat mehrere Auszeichnungen erhalten und avancierte zum Kultklassiker. Bertoluccis “Novencento”,  ist ein epischer Film, ein visuelles und inhaltliches Meisterwerk, das mit wunderbaren Szenen und Aufnahmen begeistert und für mich der letzte Höhepunkt der kreativen Phase des italienischen Films , dessen Handlung in Italien angesiedelt ist. Bertoluccis hat danach lange keinen Film mehr in Italien gedreht.

Es gibt noch viele andere italienische Regisseure, die großartige Filme schufen, wie Sergio Leone, Francesco Rosi, Liliana Cavani, Paolo und Vittorio Taviani oder Marco Bellocchio. Sergio Leone, der mit seinem Italo-Western ein neues Genre erschuf und brillante und berühmt gewordene Filme drehte (Per un pugno di dollari – Für eine Handvoll Dollars 1964, Il buono, il brutto, il cattivo, lit. ’The good, the ugly, the bad 1966 oder C’era una volta il West – mit dem deutschen Filmtitel: Spiel mir das Lied vom Tod 1968), ist sicherlich einer der herausragenden Kultregisseure aus Italien, dessen Werke die Generationen überlebten und immer noch Zuschauer finden.

In den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde es still im italienischen Film. Die Amerikanisierung und Kommerzialisierung des Kinos und der massive Einfluss des Fernsehers auf die Unterhaltungsindustrie in Italien ließen nur wenig Raum für kritische und kreative Regiekünstler, die progressive und experimentelle Werke schaffen wollten. Der sozialkritische italienische Film wurde durch seichte Action und Komödien verdrängt. Die Produzenten setzten auf Massentauglichkeit, und das Publikum wollte die Realität ausblenden, interessierte sich nicht für Provokation und Innovation, ging ins Kino, um die Zeit totzuschlagen, sich zu amüsieren und unterhalten zu lassen.

Die Befürchtungen des Intellektuellen Pier Paolo Pasolini über die zunehmend geistige Verflachung und konsumzentrierte Oberflächlichkeit in seinem Land hatten sich bewahrheitet. Italien verlor, trotz der grandiosen Leistung vieler Regiemeister und deren bahnbrechenden Filme, deren Bedeutung als unübertroffen und einzigartig gilt, seine kreative Vorreiterrolle.

Auch wenn diese künstlerisch wertvolle und fruchtbare Periode verschwunden ist, steht es jedem frei, sie wieder oder neu zu entdecken und aufleben zu lassen. Dank Filmhistorikern und modernen Restaurierungstechniken ist es möglich, die italienischen Meisterwerke nicht zu vergessen, sie zu genießen und  sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Mike Masuri, August 2025