Die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts waren nicht nur ein guter Nährboden für Flower.Power, Friedensbewegungen und freie Liebe, sondern auch für den Horrorfilm, insbesondere der nordamerikanischen Filmindustrie. Fast alle Horror-Klassiker stammen aus diesem Jahrzehnt. William Friedkin präsentierte 1973 seinen bahnbrechenden Schocker „The Exorcist“, Richard Donner brachte 1976 mit „The Omen“ einen der dunkelsten Horrorfilme auf den Markt, in dem das Böse im Körper eines kleinen, unschuldigen Kindes daherkommt. Roman Polanski lehrte schon 1967 mit „Rosemarys Baby“: einem düsteren Thriller mit dem großartigen John Cassavetes, einer Generation das Fürchten. George A. Romero brachte ein Jahr nach Polanski, 1968, den ersten Zombie-Film auf die Leinwand: „The Night of the Living Dead“. Brian De Palma brachte 1976 mit der Stephen King Verfilmung „Carrie“, den puren Horror in eine idyllische, amerikanische Kleinstadt. 1978 schuf John Carpenter einen erfolgreichen Slasher-Film namens „Halloween“, der bis heute ein Franchise mit 13 Filmen nach sich zog. Der amerikanische Meisterregisseur Stanley Kubrick stahl 1980 mit einer weiteren King-Verfilmung allen die Show. „Shining“ gilt als Meilenstein des Kinos und gilt als der absolute Maßstab für den Horrorfilm.
In der Mitte der Achtziger Jahre verflachten dann die Horrorgeschichten im Kino, verloren ihr dämonisches Grauen und wurden von ekligen Blutspektakeln und kitschigen Monstern ersetzt, die nur im ersten Moment Schrecken erzeugten, dann aber lächerlich wirkten.
In dieser Zeit entdeckte ich die Filme des kanadischen Regisseurs David Cronenberg, der einen neuen, innovativen Weg einschlug und dessen Filme visionäre Albträume, Kontroversen und universelle Erkenntnis entfachten.
Den ersten Film von David Cronenberg, den ich im Kino sah, war „The Fly – Die Fliege“ von 1986 mit Jeff Goldblum in der Rolle des exzentrischen Wissenschaftlers, der sich im Lauf eines Experiments in ein insektenähnliches Hybridwesen verwandelt. Mir gefielen die Handlung, die Schauspieler, die Spezialleffekte, der Fluss der Geschichte und das tragische Ende: Alles passte zusammen und bot fesselnde Unterhaltung. Dass „The Fly“ schon der zehnte Film Cronenbergs war, erfuhr ich erst später. Und auch, dass ich schon einen anderen seiner Filme auf VHS-Video gesehen hatte: „Rabid“, ein Horrorfilm aus 1976, den Cronenberg gänzlich in Kanada mit kanadischen Schauspielern drehte. „Rabid“ ist eine bizarre Geschichte über eine junge Frau, die nach einer Operation und einer Transplantation keine gewöhnliche Nahrung mehr aufnehmen kann und sich von menschlichem Blut ernährt. Durch ein penisartiges Gewächs unter ihrem Arm saugt sie den anderen Menschen Blut ab und vereinigt sich mit ihnen sexuell, um die Mutation weiterzugeben, was zu dem Ausbruch einer Seuche führt. Als die Zahl der Infizierten zu hoch wird, beginnt das Militär, Jagd auf sie zu machen und sie zu töten. Die junge Frau findet ein tragisches Ende, ebenso wie der Wissenschaftler in „The Fly“, der als mutiertes Zwischenwesen von seiner eigenen Frau erschossen wird.
Cronenberg hatte schon mit seinem Film „Shivers“, der in deutschen Kinos unter dem Titel „Der Parasiten-Mörder“ lief, 1975 einen Aufschrei in seinem Heimatland hervorgerufen und gleichzeitig einen der größten finanziellen Erfolge eines kanadischen Filmes erzielt. Auch in „Shivers“ geht es um einen Wissenschaftler und ein grässliches Experiment mit Parasiten, das fehlschlägt und zu einer Ausbreitung der Parasiten in einem Wohnhaus führt. Durch den gesteigerten Sexualtrieb der Wirte wird die Seuche von Träger zu Träger weitergegeben. Eine orgiastische Ausschweifung treibt die Hausbewohner in den Irrsinn.
Im ersten Moment hielt ich die Filme für überdrehte und perverse B-Filme, die mich an einen Low-Budget-Horror-Trash à la Roger Corman erinnerten. Doch je länger ich über die Handlung nachdachte und mich mit den Filmen beschäftigte, desto bewusster wurde mir die Qualität und Originalität, die sich deutlich von anderen abhob. Damals begann ich auch, die Romane des englischen Science-Fiction-Autors J.G. Ballard zu entdecken, und fand so manche Parallelen in den Werken der beiden Künstler, deren Sujets mich zusehends inspirierten.
Spätestens als ich Cronenbergs Film „Dead Ringers“ von 1988 mit dem genialen britischen Schauspieler Jeremy Irons sah, war ich überzeugt, dass er einer der größten, zeitgenössischen Filmregisseure ist. „Dead Ringer“ scheint auf den ersten Blick den falschen Filmtitel zu tragen. Erst wenn man die Handlung rund um die eineiigen Zwillingsbrüder aufmerksam verfolgt, entdeckt man den Zusammenhang. In der Regel tauchen Gynäkologen in Filmen eher in Komödien auf, selten in einem Psychothriller. Cronenbergs Film zeichnet die Abhängigkeit und die Abweichung der Charaktere von zwei Männern auf, die rein biologisch betrachtet eine Einzelperson sein sollten, aber zu zwei Menschen wurden, der eine arrogant und selbstherrlich, der andere superklug und introvertiert. Das Verhängnis beginnt mit einer Liebesaffäre, in die der Introvertierte gerät und die sein inneres Gleichgewicht zerstört und in den Abgrund aus Drogensucht, Depressionen und Wahnsinn reißt. Jeremy Irons, der beide Zwillinge mit ihrer unterschiedlichen Verfassung spielt, hat eine der besten Schauspielleistungen exerziert, die bislang ihresgleichen sucht. Die Szene, als der labile Zwilling in blutroter OP-Kleidung mit bizarr, verformtem chirurgischen Besteck, das wie alienartige Waffen aussieht, eine Patientin operieren will und von den Schwestern im letzten Moment zurückgehalten werden muss, ist ein Schock, der einem durch Mark und Bein geht.
David Cronenberg sollte mich aber noch mehr in Staunen versetzen. 1991 sah ich ein Filmplakat in der Auslage meines Lieblingskinos und konnte es nicht fassen. Ich war fest überzeugt, dass William S. Burroughs’ Roman „Naked Lunch“, der 1959 veröffentlicht wurde, nicht verfilmbar ist. Cronenberg wagte sich an den mutigen Stoff, der die Grenzen der Literatur sprengte, und schuf einen Film, der sich mit dem Buch messen kann. Die Handlung rund um den Schriftsteller William Lee ist eine schizophrene Halluzination aus Geheimagenten, mutierten Wesen, pornografischen Orgien und einem irren Drogenrausch, der jede Grenze zwischen Fiktion und Realität verwischt. Der „Naked Lunch“ von Cronenberg ist eine Neuinterpretation des Originalstoffs, weniger exzessiv, vulgär und wahnwitzig, und für das Kino zurechtgeschnitten und entschärft, dennoch sehenswert.
Cronenberg wagte sich 1996 an einen anderen Skandalroman. Als ich den Roman „Crash“, den der britische Autor James Graham Ballard schon 1973 publizierte, zum ersten Mal las ( und ich las den Roman, bevor ich den Film sah), packte mich die abstruse Geschichte rund um Autofetischismus, Sadomaso und Todessehnsucht bereits nach den ersten Seiten. Im Grunde ist die Handlung linear und involviert keine Aliens, keine mutierten Insekten oder biochemische Experimente. Sie handelt von realen Menschen im modernen London, die die Nähe zum Tod durch inszenierte Autounfälle sexuell anregend finden, auch wenn sie dabei schwer verletzt werden. Pornografie und Technikbesessenheit paaren sich in einem grotesken und radikalen Gemenge, das geschmacklos und provokant sein kann, gleichzeitig in seiner Erotik visionär und bahnbrechend ist. Cronenbergs ist eine großartige Verfilmung dieser außergewöhnlichen Geschichte gelungen, die meiner Meinung nach, die Essenz seines Schaffens ist. Ein langsamer, kühler, detaillierter Film, der uns gewagte Bilder liefert, die noch nie im Kino zu sehen waren.
Der Science Fiction-Film „ExsitenZ“ von 1999 dreht sich um virtuelle Realität in Verbindung mit biotechnologischer Entwicklung. Die Designerin eines neuen Spiels kann mit ihrem „bio-port“, einem organisch-biologischen Gehirn, das extern an das menschliche Nervensystem angeschlossen wird, die Spieler in eine künstliche Realität versetzen, die von der echten Realität kaum mehr zu unterscheiden ist. David Cronenberg schrieb das Drehbuch selbst, ohne auf eine Buchvorlage zurückzugreifen. Der außergewöhnliche Film floppte aber an den Kinokassen und erhielt schwache Rezensionen, obwohl ich die Idee sehr spannend und auch realistisch finde. Schließlich arbeiten und forschen multinationale Konzerne heute fieberhaft an künstlicher Intelligenz, die zeitnah auf Spielkonsolen, Festplatten und Chips verzichten wird. Doch „ExistenZ“ musste sich 1999 mit dem Megahit „The Matrix“ messen, der einen gewaltigen Boom auslöste und andere Filme verdrängte.
Einer meiner Lieblingsfilme ist „Eastern Promises“ von 2007 mit dem US-amerikanischen Schauspieler Viggo Mortensen, der den Chauffeur eines russischen Patriarchen verkörpert, der auch heimlich für die Polizei als Spitzel fungiert. Der Film unterscheidet sich von anderen Cronenberg-Filmen und ist ein realistischer Thriller, in dem menschliche Tragödien und Gewaltexzesse dominieren und keine mutierten Wesen zu sehen sind. Gedreht in London mit einem exzellenten Cast aus Naomi Watts, Vincent Cassel, Armin Mueller-Stahl ist „Eastern Promises“ ein atmosphärisch dichter und fesselnder Gangsterfilm aus dem Milieu der russischen Mafia, der auch für den Regisseur ein finanzieller Erfolg war.
Einer meiner Top-Favoriten ist „A Dangerous Method“, den Cronenberg 2011 in die Kinos brachte: ein halb-fiktives historisches Drama über die Beziehung des Schweizer Arztes Carl Gustav Jung und des österreichischen Neurologen und Psychoanalytikers Sigmund Freud, zwei der bedeutendsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt der Handlung steht die jüdisch-russische Analytikerin Sabina Spielrein, die an Hysterie leidend, sich an einer Schweizer Klinik behandeln lassen will und dort C. G. Jung kennenlernt. Jung entdeckt bald die Intelligenz von Sabina Spielrein und vollzieht an ihr seine Experimente mit Träumen und Wortassoziationen und entdeckt ihre unterdrückten Sexualgefühle, die zu ihrem seelischen Ungleichgewicht geführt haben. Der Arzt beginnt eine sexuelle Beziehung mit seiner Patientin. Als der Arzt Sigmund Freud involviert wird, der mit C.G. Jung befreundet ist, und mit seinen Theorien gerade die Psychoanalyse revolutioniert, entspannt sich ein fatales Dreiecksverhältnis, das durchtränkt ist von Leidenschaft, Wissensdurst und Feindschaft. Jung und Freud geraten in einen wissenschaftlichen Disput über die Wirksamkeit ihrer Theorien und Experimente. Michael Fassbender als Jung und Viggo Mortensen als Freud liefern grandiose Schauspielkunst, die Cronenberg hervorragend filmisch veredelt. Da ich mich selbst jahrelang mit Freuds Sexualtheorien und Psychoanalyse und auch C. G. Jungs Archetypen und Traumdeutung auseinandersetzte, fand ich schnell Zugang zu dem Film und entdeckte viele authentische Parallelen, die sich tatsächlich so zugetragen hatten. Cronenberg drehte den Film in Deutschland und Österreich, um den historischen Hintergrund noch lebendiger zu gestalten, was ihm wahrlich gelungen ist.
Cronenbergs Filmadaption des meiner Meinung nach mittelmäßigen Romans „Cosmopolis“ des amerikanischen Autors Don DeLillo überzeugte mich genauso wenig wie der Nachfolgefilm „Maps of the Stars“, auch wenn es darin gute Momente gab. In seinem Film „Crimes of the Centuries“ von 2022 greift er wieder auf sein Interesse für den menschlichen Körper als Studienobjekt zurück, und zeigt eine bizarre Handlung über zwei Künstler, die zur Unterhaltung bizarre chirurgische Experimente in der Öffentlichkeit vorführen.
David Cronenberg ist ein Regisseur, der einen eigenen ästhetischen und exzentrischen Stil erreichte, wiedererkennbar und einzigartig, und der Schauspieler zu Höchstleistungen motivierte, über ihre Grenzen zu gehen und unbekannte Regionen zu erkunden. Er hat ohne Zweifel einen großen Einfluss auf jüngere, vornehmlich europäische Filmemacher wie Yorgos Lanthimos, Julia Ducournau oder Coralie Fargeat und gilt als wagemutiger Pionier, der sich in Sphären wagte, die andere aus Furcht und Scham ausließen. Immer wieder erinnerten mich Sequenzen in Cronenbergs Filmen an die Gemälde des Renaissance-Malers Pieter Breughel der Ältere, der kuriose Mensch-Tier-Bestien und infernalische Orgien darstellte; an den irischen Maler Francis Bacon mit seinen figurativen Porträts, die den deformierten menschlichen Körper zur Projektionsfläche seelischer Zustände machten; oder den Schweizer Künstler H.R. Giger, der mit seinen surrealen Alien-Mensch-Maschine-Zeichnungen eine biomechanische Ästhetik kreierte. Was Cronenbergs Interesse für transbiologische Lebensformen und transhumane Existenzen betrifft, hat er sicherlich in der Geschichte des Films eine Sonderstellung erlangt. Gleichzeitig porträtiert Cronenberg die Einsamkeit und Isolation des Andersartigen und die Angst der Allgemeinheit davor, die dazu führt, dass die Gesellschaft das Unkonventionelle bekämpft und letztlich vernichtet. Darin kommt der universale Widerstreit zwischen dem Bedürfnis nach neuen Erkenntnissen und dem Festhalten an alten Strukturen zum Ausdruck.
Mike Masuri, 2025
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